Titel
Childhood and Modernity in Cold War Mexico City.


Autor(en)
Ford, Eileen
Erschienen
London Oxford New York New Delhi Sydney 2018: Bloomsbury
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
$ 85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

In fünf Kapiteln setzt Eileen Ford sich mit Kindheiten in Mexiko-Stadt in den Jahrzehnten zwischen etwa 1930 und 1968 auseinander. „Kindheit“ bildet dabei eine Linse, durch die sie auf die mexikanische Gesellschaft im Kontext beschleunigter Modernisierungsprozesse schaut.

In fünf Kapiteln setzt Eileen Ford sich mit Kindheiten in Mexiko-Stadt in den Jahrzehnten zwischen etwa 1930 und 1968 auseinander. „Kindheit“ bildet dabei eine Linse, durch die sie auf die mexikanische Gesellschaft im Kontext beschleunigter Modernisierungsprozesse schaut. Dass es sich in diesem Rahmen lohnt, auf Kindheit und Kinder zu schauen, kann allgemein begründet werden mit den aktuellen Debatten der Childhood Studies und der Kindheitsgeschichte: Während lange Zeit nur die weiße und bürgerliche Kindheit in Westeuropa oder Nordamerika erforscht wurde, interessieren Historiker/innen sich nun in wachsendem Maße für „andere“ Kindheiten und nehmen soziale, kulturelle, nationale, ethnische und religiöse Vielfalten in den Blick. Für Eileen Ford bildet außerdem die pure Zahl von 2,85 Millionen ein wichtiges Argument. Dies ist das Ergebnis der demografischen Entwicklung von Mexiko-Stadt, wo die Größe der minderjährigen Bevölkerung von etwa 400.000 im Jahre 1930 auf eben über 2,8 Millionen im Jahre 1970 anwuchs. Gemeinsam mit den politischen Umwälzungen der 1930er-Jahre bildet dieser Wandel einen Rahmen für die historische Betrachtung und – vor allem – einen Motor für ambitionierte Bildungs- und Sozialpolitik.

In ihrem ersten Kapitel beschreibt die Autorin die Versuche der Regierung, Mexiko-Stadt als „city of children“ zu organisieren, zu kontrollieren und vor allem: zu modernisieren. Zu den Symbolen von Modernität gehörten nicht zuletzt Räume und Angebote für Kinder. Schulen und Spielplätze sowie Kinos und Theater wurden zu Elementen einer neuen, dezidiert modernen Infrastruktur. Kinder wurden zu wichtigen Adressaten von Bildungs- und Informationsangeboten, die wiederum über Schulen, Veranstaltungen, Radio und später auch das Fernsehen vermittelt wurden. Dass dies nicht nur eine Angelegenheit von Staat und Stadtregierungen war, macht Ford deutlich, wenn sie weitere Akteure in den Blick nimmt. Zu diesen gehören Vertreter der Konsumindustrie, insbesondere Produzenten von Filmen und Büchern (vor allem Comics) für Kinder. In einem interessanten Diskurs geht Ford ausführlich auf das Engagement und die Wirkung Walt Disneys in Mexiko ein und leitet damit zu einem weiteren wichtigen Aspekt ihrer Argumentation über: der Bedeutung nationaler Identität, der Konstruktion von Rassehierarchien und der großen Relevanz von Klassenzugehörigkeit. Auch bei den weiteren Akteuren im hier beschriebenen Kindheitsdiskurs spielen diese Elemente eine große Rolle, so bei der Kirche und den Medien, aber auch bei vielen Eltern, für die eine moderne, „gute“ Kindheit zu einem Marker gehobener Klassenzugehörigkeit wurde.

Die Vorstellungen von moderner Kindheit, wie sie in West- und Mitteleuropa sowie in Nordamerika zwischen ungefähr 1860 und 1930 entstanden, erreichten spätestens um 1930 auch Mexiko. Die Umsetzung dieser Vorstellungen jedoch hatte mit verschiedenen Problemen zu kämpfen, allen voran der Tatsache, dass die idealisierte Kindheit eine grundlegend bürgerliche war. Dieses Ideal für alle Kinder zugänglich zu machen, ist in einer von großen sozialen Gegensätzen geprägten Gesellschaft praktisch nicht möglich und stößt auf zahlreiche sozialpolitisch, ökonomische und nicht zuletzt diskursive Probleme. Dass dies keine Besonderheit Mexikos, sondern ein Grundaspekt der Modernisierung von Kindheit ist, haben zahlreiche Untersuchungen vor allem zu Westeuropa und Nordamerika bereits gezeigt. Ford gelingt es, diesen Konflikt für den Fall Mexiko sehr aufschlussreich zu analysieren. Kinderarbeit (für Kinder unter 14 Jahren) beispielsweise war mit dem Konzept einer modernen, behüteten Kindheit nicht zu vereinbaren und wurde entsprechend verboten – dass dennoch sehr viele Kinder noch in der zweiten Jahrhunderthälfte für sehr geringe Löhne arbeiteten, war und ist kein Geheimnis. Viel Raum widmet Ford der katholischen Kirche, die eine besonders komplexe Rolle spielt. Mit Ritualen, Zeitschriften und in Institutionen werden Kinder direkt angesprochen und erzogen zu Idealen von nationaler Gemeinschaft, natürlich religiöser Frömmigkeit, sozialer Verantwortung, Rassen- und Klassenbewusstsein sowie traditionellen Geschlechterrollen. Ford nutzt den Begriff der subjectivity nur selten und ohne ihn präzise auszuarbeiten, aber ihr Blick auf die ganzheitlichen Erziehungsmaßnahmen, die aus Kindern moderne Mexikaner machen wollten, überzeugt.

An Grenzen stößt die Studie dort, wo sie versucht, Kinder selbst als Akteure einzubringen und mit Vorstellungen, Wünschen, Erfahrungen und Emotionen der Kinder argumentiert. Die Quellenlage ist zu prekär, um einen solchen Ehrgeiz wirklich umzusetzen (und dies ist beileibe nicht nur für Mexiko der Fall). Auch Alltagserfahrungen von Kindern und Familien sind problematisch nachzuweisen. Entsprechend ist Ford auf vereinzelte Zitate angewiesen, oft aus fiktionalen Texten oder aus Erinnerungen. Ob aber ein Buñuel-Film (S. 34) oder die Memoiren eines Filmregisseurs (S. 103) geeignet sind, um die Kultur der Sonntagsausflüge oder die Begeisterung von Kindern für das Kino nachzuweisen, ist fraglich. Der Autorin ist dies offenbar auch bewusst, wie einige vorsichtige Hinweise auf die Quellenproblematik und vor allem die Tatsache nahelegen, dass der Versuch, „Kinder“ (und eben nicht „Kindheit“) in die Argumentation einzubringen, gegen Ende des Buches deutlich seltener werden.

Schade ist außerdem, dass die zu Beginn aufgeworfene Hypothese von einer Generation, die gewissermaßen in die Situation von 1968 hineinwächst, später nicht wieder aufgegriffen wird. Ganz ähnlich wie bei dem im Titel erwähnten „Kalten Krieg“ haben wir es auch hier mit einem losen Ende zu tun.

Unabhängig von dieser Kritik aber liegt hier ein interessant geschriebenes, gründlich recherchiertes Buch vor, das gleich verschiedene Leserkreise interessieren dürfte: Lateinamerikahistoriker/innen, Kindheitshistoriker/innen und überhaupt jede/n, die/der sich mit Dynamiken und Komplexitäten von Modernisierungsprozessen befasst.

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